Vom patriotischen Reflex zum europäischen Bewusstsein. Der französische Widerstand und die geopolitische Lage 1945“in "Wir kämpfen für ein Europa des Friedens. Europapläne im deutschen und europäischen Widerstand, 1939-1945", Berlin, Lukas Verlag, 2024, p. 123-148.
Die europafeindliche Bewegung bedient sich in diesen Jahren verschiedener Quellen aus einer bestimmten Geschichtsschreibung und versucht, ihre Positionen durch eine irreführende Neuinterpretation der Geschichte zu rechtfertigen. Häufig geht es darum, die historische Legitimität des europäischen Einigungswerks zu untergraben, um die Öffentlichkeit zu verunsichern und Wahlen oder Referenden zu beeinflussen. Die erste Neuinterpretation zielt darauf ab, den ideologisch verdächtigen Charakter des europäischen Einigungsprojekts anzuprangern, indem die Nazi-Pläne zur Bildung einer „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ heraufbeschworen werden. Aus diesem Grund machten britische Medien (wie The Independence Daily) in den Tagen vor dem Referendum über die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union (23. Juni 2016) urplötzlich Werbung für ein vergriffenes Buch aus dem Jahr 1997: The Undemocratic Origins of The European Idea von John Laughland. Die zweite, weiter verbreitete und populärere Neuinterpretation betrifft die Kritik an der angeblichen Absicht der „Väter“ Europas, ein antinationales und antidemokratisches bürokratisches Projekt im Dienste bestimmter Partikularinteressen zu errichten. Jean Monnet wurde auf diesem Weg zur stigmatisierten Figur der verschwörungstheoretischen These einer „großen Vertuschung“. Die souveränistische Linke nimmt verschiedene Modulationen dieses Themas vor. Ein Intellektueller wie Régis Debray stellt Jean Monnet und Robert Schuman gerne als „Anhänger einer heimlichen Strategie“ dar, die darin bestanden habe, „das wirtschaftliche Europa ins Leben zu rufen, um eine politische Agenda zu akkreditieren und zu akklimatisieren“; er reduziert den Europäismus auf „einen schwachen Bürgerkult“ oder auf einen „Ersatz-Messianismus“, dem sich die „Waisen enttäuschter Erwartungen“ angeschlossen hätten. Eine dritte Lesart bevorzugt das Prisma des Kalten Krieges, um zu erklären, dass der Frieden, den wir seit 1945 erlebt haben, nicht die Folge der europäischen Einigung ist, sondern das indirekte Produkt des „Weltfriedens“, der sich aus dem Kalten Krieg und der „Ausschaltung der Waffenarsenale und des hergebrachten Misstrauens“ ergeben habe. Gegen diese Art von Geschichtsrevisionismus ist es notwendig und sinnvoll, eine unbestreitbare Tatsache zu bekräftigen, nämlich dass der Zweite Weltkrieg ein entscheidender Faktor im europäischen Prozess war und dass das Engagement von Männern und Frauen im antinazistischen und antifaschistischen Widerstand das Bewusstsein für den Nutzen und die Dringlichkeit eines geeinten Europas neu geweckt hat.
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